Fünfter Spaziergang: Mit der WOGE-WG durch die Neustadt und zum Mauthstadion

Bisher war ich ja meistens allein spaziert, von Rousseaus Promeneur solitaire, der sich in Naturbetrachtungen und Träumereien verliert, über den Flaneur in den Großstädten zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Baudelaire, Edgar Allan Poe, Walter Benjamin oder Franz Hessel, bis zu den Spaziergängerfiguren im Werk Robert Walsers oder W.G. Sebalds sind die literarischen Spaziergänger meist männliche Einzelgänger. Manchmal gingen wir auch zu zweit, weil jemand mir etwas zeigen wollte oder einfach um des Spazierens willen. Ins Gespräch vertieft, vergesse ich oft, wo die Wege hinführen und wenn ich später dieselbe Strecke nochmals alleine gehe, finde ich gewisse Straßen, Orte und Eindrücke nicht gleich wieder. Guy Debord beschreibt in seinem Aufsatz La theorie de la dérive aber gerade die Gruppe von drei und mehreren Menschen als für den Zufall des Umherschweifens interessante Menge. Wie bewegt man sich in einer Gruppe? Das weiß jeder, der einmal versucht hat, in einer größeren Gruppe zu entscheiden, wo man noch hingehen könnte, was meistens ein eher schwieriges Unterfangen ist. Übernimmt jemand das Kommando, geht einer voraus, ist der Weg im voraus bekannt? Zerstreut sich die Gruppe oder bleibt sie zusammen, wer spricht mit wem und wer schweigt, gehen einige schneller voraus oder passt man sich den Langsameren an, verliert man einander und trifft sich wieder?

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Heute bin ich mit Mara und der Wohngruppe WOGE in der Neustadt verabredet, eigentlich wollte ich ja zu Fuß gehen, aber ich bin zu spät und diese Strecke auch schon oft gegangen, in den verschiedensten Variationen, über den Kaiser-Josef-Platz, Ringstraße und Roseggerstraße oder auch außen herum über die Pater-Wörndl-Straße, diesmal fahre ich also mit dem Fahrrad unter der Unterführung hindurch und schon bin ich in der Eferdinger Straße. Die Gruppe ist bereits ausgehfertig, einige haben andere Pläne, beispielsweise die Frau mit der Sonnenbrille, der ich nicht ansehe, ob sie eine Betreuerin oder Bewohnerin ist, ich habe höchstens eine leise Vermutung, da sie bei wechselhaften Wetter in der halbdunklen Stube eine Sonnenbrille trägt. Drei junge Männer kommen mit, die mir die Hand schütteln und mich ansonsten wenig beachten. Wir wollen zum Mauth-Stadion gehen und es wird diskutiert, ob dieses etwas mit der Autobahn-Maut zu tun habe, vielleicht. Mara meint, sie könnten mir mal erzählen, was die Woge ist, ein Wohnheim für Behinderte und Nichtbehinderte, sagt der Jüngste der drei, Manuel, so stehe es zumindest in den Akten, ergänzt er, zurzeit wohnen jedoch nur Menschen mit einer Beeinträchtigung darin, ihm sieht man diese nicht an. Mara erklärt später, dass das Wohnheim zwar mit dieser an sich guten Idee gegründet wurde, sich aber mit der Zeit anders entwickelt hat, irgendwie ist es ja auch komisch, wenn die Nichtbehinderten den Behinderten sagen, wo’s lang geht, sagt sie, nachts sei die WG jedoch auf sich allein gestellt, dies funktioniere auch gut. Der älteste der drei, Dario, wohnt bereits seit zwölf Jahren in der WOGE, er bereite sich nun darauf vor, in zwei Jahren alleine zu wohnen, wofür er alle Ausgaben sammle und eine genaue Kalkulation erstelle, eine Sache, vor der ich selbst mich in meinem bisherigen Leben immer gedrückt habe.

Dario geht mit Manuel voraus, während Mara und ich mit Paul langsamer gehen. Paul ist groß gewachsen und mager, seine blonden kurzgeschnittenen Haare verlaufen sich in einem Flaum am Nacken, die traumverhängten Augen sind verdeckt hinter langen Wimpern. Seit einem Hirnschlag vor einem Jahr kann er nur schlecht sehen, bewegt sich zögerlich und vergißt manchmal seinen Namen, wo sein Zimmer war oder überhaupt alles. Dario habe ihn gefunden, erzählt Mara, die beiden seien unzertrennliche Freunde, gell der Dario ist dein Freund, fragt sie ihn. Ich weiß nicht, meint er skeptisch, ich glaube er ist eher dein Freund.

Als Paul klein war, so erzählt Mara weiter, habe seine Schwester einmal auf ihn aufpassen müssen und habe ihn auf dem Spielpatz verloren, seine Mutter sei sehr streng gewesen. Paul nickt, daran kann er sich erinnern oder es wurde ihm schon oft erzählt, in der WOGE hätten sie ihn schließlich wiedergefunden. Und als die Mutter dann starb, habe seine Schwester angerufen und gefragt, ob ein Platz frei sei, ein Glück sei das gewesen, dass damals gerade ein Platz frei geworden sei, erzählt Mara. Für mich oder für euch, fragt Paul darauf und wir lachen. Ist das alles in den Akten über mich vermerkt, fragt Paul.

Wir gehen die Haidestraße entlang, hier tragen die Straßen Namen der berühmten Komponisten, wobei die Beethovenstraße nur ein paar Häuser lang ist, Mozart und Bruckner als Österreicher bekamen längere Straßen, Schubert ist auf der anderen Seite der Gleise und Johann Strauß in der Vogelweide, weshalb die Haidestraße nach der Heide benannt ist oder vielleicht Haydnstraße hätte heissen sollen, frage ich mich, aber Straßennamen haben selten einen größeren Sinn. Was ist das für eine Straße, fragt Paul, als hätte er meine Gedanken erraten, kenne ich die? Wir waren hier auch schon mal, meint Mara, Du kennst sie bestimmt auch von früher. Sie erklärt, die Straße hieße Reform-Werke-Bauer-Straße, nach dem Gründer der Reformwerke hinter der hohen Mauer. Im Heimatkundlichen Lesebuch Wels von 1962 gibt es eine Passage mit dem Titel Landmaschinen als unentbehrliche Helfer über die 1910 von Johann Bauer mit sieben Mitarbeitern gegründete Firma, deren erstes Modell die Sämaschine Welsia war. Hans und Peter zwei aufgeweckte Buben spazieren mit ihrem Großvater durch Wels: Als sie wieder einmal zu dritt durch die Straßen der Welser Neustadt spazierten, kamen sie zu einer großen Fabrik. Hinter dem Zaun sahen sie eine eigenartige rote Maschine in der Sonne blinken. Die beiden Buben reckten ihren Hals und schauten neugierig durch den Zaun. Der alte Mann lächelte, er hatte selbst viele Jahre in diesem Betrieb gearbeitet. „Ein Motormäher ist es“, erklärte er.

Dann die neben Trodat zweite große Stempelfabrik in Wels, Colop, im Gegensatz zu Trodat ist mir diese kein Begriff, später sehe ich aber in Berlin lauter Stempel der Firma Colop, vieles fällt einem eben auch erst auf, nachdem man den Namen kennt. Ich hatte ja noch nicht einmal die weltberühmte Welser Bäckerei Resch und Frisch gekannt, bevor ich nach Wels kam.

Wir unterhalten uns weiter darüber, wen wir kennen, den Wasserbauer Wolfgang kennt Paul nicht, dafür kennt er den Verkehrsstadtrat Hoflehner, der hier in einem der Reihenhäuschen wohnt. Wir kommen zu einem dieser weiteren Welser Kreisel, anscheinend wurden diese in den Nullerjahren gebaut, damit die Fußgänger und Radfahrer einen größtmöglichen Umweg machen müssen und die Gärter auch etwas zu tun haben, hier ist Mara nicht sicher, welchen Weg die beiden Jungs genommen haben, auf beiden Wegen kommt man jedoch zum Mauth-Stadion. Wels habe früher einmal in der ersten Liga gespielt, jetzt aber längst nicht mehr, auch der FCZ ist abgestiegen, hat aber gleich nochmal den Cupfinal gewonnen, was die Südkurve nicht beruhigen konnte: Günned de Final, gönd hei und schämed eu wiiter, schrieb die Südkurve beleidigt auf ihr riesiges Transparent. Wir gehen um das Stadion herum und treffen Dario und Manuel, die es von der anderen Seite her bereits umringt haben vor einem riesigen Getreidefeld mit lauter roten Klatschmohnblüten dazwischen, die sich gegen den Horizont zu einer einzigen rotleuchtenden Fläche auszudehnen scheinen, ein Anblick wie auf einem impressionistischen Gemälde, es fehlt nur die Frau mit Hut.

Dario wird heute noch für die WG kochen, ist deshalb schon etwas in Eile und will den kürzeren Weg zurück gehen, Paul geht ihm ungefragt hinterher und hört nicht auf unsere Rufe, mit Dario kann er ohne weiteres allein gehen, sagt Mara. Wir nehmen den Matschweg zwischen Bahndamm und Sportplatz, unter den Bäumen hindurch, Manuel trägt Flip-Flops, im Gegensatz zu mir kann er meilenweit in Flip-Flops gehen. Er macht eine Lehre bei Bauhaus in Pasching. Ich will sagen, dass ich vor kurzem bei Bauhaus war, aber das war ja nicht in Wels, sondern mit Lili in Berlin, manchmal geraten auch mir die Orte und Zeiten durcheinander. Er verstehe Schweizerdeutsch ohne weiteres, meint er, er sei da immer zum Skifahren gewesen, er kann sich nicht mehr erinnern wo, irgendwo da unten, sagt er. Später erfahre ich, dass er eine Nierentransplantation hatte und zur Kur in der Schweiz war. Ich stelle mir Manuel vor, in eine dicke Decke eingehüllt, in irgendeiner Zauberbergklinik in Davos. Es sollte endlich mal wieder richtig kalt werden, sagt er, das dürfe er nicht zu laut sagen hier, meint Mara lachend. Weil es in Österreich nicht mehr richtig kalt wird, fährt er im September nach Island. Auch in Island gäbe es Bauhaus, das hat er schon rausgefunden, nun schaut er noch auf seinem Handy nach, wie weit das isländische Bauhaus von Reykjavik und wie weit sein Hotel vom Flughafen entfernt ist, wahrscheinlich zu weit, um zu Fuß zu gehen. Ich stelle mir Manuel vor, am Flughafen von Reykjavik in Flip-Flops. Da gibt es bestimmt einen Bus, sage ich.

Mara erzählt, dass ein anderer Bewohner, Horst, sehr weite Strecken zu Fuß gehe. Horst fliege sehr gerne, gerade sei er in San Francisco, vor zehn Jahren sei er zum ersten Mal nach Dubai geflogen. Er nähme jeweils ein Hotel am Flughafen und ginge dann zu Fuß in die Stadt. Er sei auch schon von Wels nach Linz gegangen, der Traun entlang und dann wieder zurück. Schade, dass ich Horst, den Spaziergänger, nicht mehr kennenlerne.

Der schmale Weg zwischen Bahngleisen und Fußballplatz nun doch etwas nass, wir gehen am Rand der Pfützen, neben dem Gitter. Manuel reißt eine unreife Frucht oder Beere von einem Baum, ist es eine Kirsche oder doch eher eine Vogelbeere? Besser nicht essen, sagt Mara, worauf er sie erst recht in den Mund schiebt, er habe schon hunderte davon gegessen, meint er, entweder sie seien nicht giftig oder sein Magen habe sich daran gewöhnt. Über die Mozartstraße gehen wir zurück zum Wohnheim, da zurzeit kaum Autos fahren, gehen wir mitten auf der Straße, was auch ein gutes Spaziergängergefühl ist.

Im Wohnheim lerne ich noch ein paar Mitbewohner und Mitbewohnerinnen kennen, eine Glastür führt vom Wohnzimmer in den Garten, eine getigerte Katze schleicht hinein. Wir reden vom Essen, die Bewohner können sich zum Kochen eintragen, der schüchterne Mann am Ende des Tisches ist diese Woche noch dran, er will Schnitzel zubereiten, seine Spezialität. Vegetarisches Essen ist weniger beliebt, außer vielleicht Käsenockerln oder Palatschinken, werden diese aber als vergetarische Käsenockerln angepriesen, verziehen die Bewohner das Gesicht. Ich erzähle, dass ich früher immer dachte, Palatschinken sei ein Gericht mit Schinken.

Paul taucht auch wieder auf, er wirkt verschlafen und kennt mich nicht mehr, als ich ihm erkläre, wer ich bin, fragt er: Und nun, was wollen sie von mir wissen? Mir fällt nichts ein, also frage ich, ob er Palatschinken möge und er sagt nur: Pfannkuchen. Seine Mutter war Deutsche. Die Katze liegt rücklings auf seinen Knien, lässt sich erst streicheln, fährt dann aber die Krallen aus und hakt sich in die Ärmel seines Pullovers.

Die blonde Frau mit der Sonnenbrille erzählt, dass ihre Nichte in der Schweiz studiert, in Zürich habe ja auch der Udo Jürgens gewohnt, am Zürichsee. Udo Jürgens sei ja beim Spazieren gestorben. Das ist eigentlich ein ganz schöner Tod, meint jemand anderes. Wie Robert Walser, denke ich. Dann kommt die Frage auf, wann Udo Jürgens gestorben sei. Die junge Frau mit den kurzen krausen Haaren und der Brille, die bisher noch gar nichts gesagt hat, hebt den Kopf und sagt: Am 21. Dezember 2014.

Später reden wir über das Wetter. Der junge Mann am Ende des Tisches habe eine Wetterstation, erzählt man mir und sage das Wetter genauer voraus als die Zeitungen. Wie wird das Wetter nächste Woche, frage ich ihn, dann habe ich Besuch aus Berlin. Nächste Woche? Meist wechselhaft.

(Namen geändert.)

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